Gastkommentar im Tagesanzeiger vom 19. Juni 2020
Die Revision des Erbrechts verschärft die Missbrauchsgefahr
Die geplante Senkung der Pflichtteile bringt dem Erblasser mehr Freiheiten. Diese kann er konstruktiv nutzen, er kann aber auch einzelne Nachkommen massiv benachteiligen.
Bundesrat und Parlament beraten gegenwärtig die Reform des Erbrechts. Es sollen dem Erblasser künftig mehr Freiheiten eingeräumt werden – sei es, um die Lebenspartnerin abzusichern, gemeinnützige Institutionen zu begünstigen oder ein Familienunternehmen möglichst als Ganzes auf die geeignetste Person zu übertragen. Deshalb sollen die Pflichtteile der Nachkommen von drei Vierteln auf die Hälfte des gesetzlichen Erbteils reduziert werden. So weit, so unproblematisch und politisch breit abgestützt.
Die tieferen Pflichtteile haben aber auch Konsequenzen, die bisher kaum diskutiert wurden. So kann ein Erblasser den neuen Spielraum auch nutzen, um – viel stärker als heute – einzelne Kinder zulasten anderer Kinder zu begünstigen.
Zur Veranschaulichung ein Beispiel: Ein Witwer stirbt und hinterlässt zwei Kinder sowie ein Vermögen von 2,4 Millionen Franken. Nach neuem Recht kann er einem Kind 1,8 Millionen und damit dreimal soviel zukommen lassen wie dem anderen (0,6 Millionen). Noch einseitiger bei drei Kindern: Das bevorzugte Kind erhält 1,6 Millionen und damit sogar viermal soviel wie jedes seiner Geschwister (je 0,4 Millionen).
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Dem Familienfrieden dürften solche Konstellationen nicht förderlich sein.
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Dem Familienfrieden dürften solche Konstellationen nicht förderlich sein: Erbfälle, bei denen die neuen Freiheiten zulasten oder zugunsten einzelner Nachkommen ausgereizt werden, dürften zu härteren Verteilkämpfen führen – auch vor Gericht.
Verschärft wird das Problem durch eine Besonderheit, die schon unter heutigem Recht ein Ärgernis darstellt: In der Praxis kommt es oft vor, dass Eltern zu Lebzeiten einem Kind eine Liegenschaft schenken und sich ein lebenslanges Wohnrecht vorbehalten. Mit diesem Vorgehen kann das beschenkte Kind zulasten seiner Geschwister zusätzlich begünstigt werden. Die Einrichtung eines Wohnrechts gilt als Gegenleistung des Kindes, sozusagen als teilweise Kaufpreiszahlung. In der späteren Erbteilung mit den Geschwistern muss sich das beschenkte Kind deshalb nur den Schenkungsanteil (also den Verkehrswert abzüglich des kapitalisierten Wertes des Wohnrechts) als Vorbezug anrechnen lassen.
Das könnte sich so auswirken: Das Vermögen des Witwers beträgt bei seinem Tod 1,2 Millionen Franken. Die Tochter setzt er zugunsten des Sohnes auf den Pflichtteil. Wenige Jahre vor seinem Tod hatte er sein Einfamilienhaus im Wert von 1,2 Millionen seinem Sohn geschenkt und sich das Wohnrecht vorbehalten. Angesichts seines Alters im Schenkungszeitpunkt von 67 Jahren und des Mietwerts der Liegenschaft von 3500 Franken pro Monat ergab sich ein Wert des Wohnrechts von 500’000 Franken.
Für die Berechnung des Pflichtteils der Tochter ist nun nicht der eigentliche Wert des Hauses von 1,2 Millionen massgebend, sondern der Wert nach Abzug des kapitalisierten Wohnrechts, also nur 700'000 Franken. Nach neuem Recht verringert sich der Pflichtteil der Tochter damit um weitere 125'000 auf 475'000 Franken, während der Sohn 1,925 Millionen erhält.
Die tieferen Pflichtteile verschärfen ein zweites Problem: Angenommen, der Witwer im Beispiel heiratet ein zweites Mal. Die Frau kommt mittellos in die Ehe. Die beiden vereinbaren Gütergemeinschaft und für den Fall des Ablebens eines Gatten die Zuweisung des Gesamtguts an den Überlebenden. Stirbt nun der Ehemann zuerst, geht das gesamte eheliche Vermögen auf die Ehefrau über, während der Pflichtteilsanspruch seiner Kinder auf neu je nur noch einen Sechzehntel reduziert wird. In Fällen von Rechtsmissbrauch können solche extremen Planungen zwar von den Kindern angefochten werden, die Hürde zum Nachweis von Rechtsmissbrauch ist aber stets hoch.
Die vorgesehene Reform erfüllt das Ziel, die Verfügungsfreiheit der Erblasser zu vergrössern. Wie die Beispiele zeigen, erhöht sich aber auch das Risiko, dass ein Erblasser die neuen Freiheiten zulasten einzelner Kinder missbraucht. Als Gegenmassnahme sollte der Gesetzgeber zumindest die zwei erwähnten Schlupflöcher schliessen.